Der wachsende Wald

Schwarzer Teich. Eingerahmt von hohen Stämmen, deren Astwerk nur ein fahles Grau bis zur Wasseroberfläche durchlässt. Gestrüpp wuchert über die Ufer, lässt sie verschwimmen mit dem Wasser, das unergründlich tief wirkt und tot. Kaum ein Schwappen ist zu sehen, als ein Tier durch den Schlamm gleitet und zwischen Schwimmpflanzen untertaucht. Stille herrscht, die Vögel sind zu weit oben in den Bäumen, dem hellen Licht entgegen. Insekten schwirren im matten grau, tanzen lautlos. Die Felsen am Ufer gegenüber tragen ein löchriges Kleid aus Moos, scheinen zu versinken in der Fülle der Pflanzen. Tau tropft von Dornen wie Blut von einer Waffe.

Am Rand des wachsenden Waldes. Die Gegend ist finster, die Pflanzen dicht und gefährlich. Nebel wehen zwischen Felsformationen umher, die zwischen den Bäumen aufragen. Moosbetten. Nur wenige Sonnenstrahlen finden den Weg bis zum Waldboden. Einzelne Katen und ganze Dörfer sind vom Grün eingefangen worden, nur noch modernde Ruinen sind zwischen den Stämmen zu erkennen, ihre Fundamente und Stützpfeiler aufgebrochen von Wurzelwerk. Wände und Dächer bekleidet mit Moos und Gräsern, die hier trotz der grauen Finsternis wuchern. Tiere sind zahlreich, doch sie sind verstört von den tiefen Schatten, die nicht weichen wollen. Viele fliehen an den Waldrand, wo Licht ist. Kleinere sind hier üppige Beute für ihre größeren Feinde, die in eben diesen lichten Teilen des Waldes jagen. Doch in den Schatten sind auch viele Tiere zurückgeblieben und haben sich verändert. Grausige Kreaturen kriechen aus Löchern und Felsnischen hervor, nie gekannte Arten zeigen sich.

Der Wald, der Tag für Tag weiter über das Land wuchert, kennt keine Gnade, keine Rücksicht. Kein Haus, kein Berg, kein Feld wird verschont. Vor seinem äußersten Rand, wie eine Bugwelle, schiebt er eine Ansammlung von Jägern, Abenteuern und zwielichtigen Geschäftemachern her. Sie leben in den Gegenden, deren Bewohner bereits geflohen sind, oder närrisch genug, auszuharren und auf das Vergehen des Waldes zu hoffen. Die Jäger lauern auf die seltsamen Kreaturen, die der Wald gebiert, um sie zu fangen und auf Dorfplätzen oder in Schänken gegen bare Münze vorzuführen. Andere schlagen das schwarze Holz der Bäume, deren Wuchs unnatürlich schnell von statten geht. Das Holz ist spröde und morsch, schon nach wenigen Wochen zerfällt es wie die Asche eines Scheites im Ofen, doch wer skrupellos genug ist, versucht es arglosen Bauern zu verkaufen, die ihre Vertrauensseligkeit bald bitter bereuen, wenn die neu errichtete Scheune staubend in sich zusammenfällt.

Und die Abenteurer wagen es, das dunstige Grau zwischen den mächtigen Stämmen zu betreten, sie wagen sich tief hinein in den Wald, um seine Geheimnisse zu ergründen. Nur wenige kommen wieder aus ihm hervor, und die meisten von denen, die es überleben und zurückkehren an den Waldrand, sind an Körper und Geist geschunden. Dornen wuchern ihnen aus der Haut, Moos und Flechten bedecken ihre Körper. Mancher berichtet von zauberhaften Lichtern, von warmem Grün, das ihn umschloss, von ewigem Frieden, den er sah. Andere trafen auf grauenerregende Monstren in den Schatten, fielen in nicht enden wollendes Dorngestrüpp und durchquerten mit schwindender Kraft ganze Wolken von Pilzstaub, der sich gelb in ihre Haut gebrannt hat wie Kreide.

Legenden befeuern die Träume der Abenteurer, der Schatzjäger. Legenden, die davon erzählen, dass sich tief im Wald, jenseits des grauen Dunsts, hinter den gelben Staubschleiern die Mauern und Türme der alten Kultur erheben, die letzten Tempel aus dem Zeitalter des Goldes. Sie wollen in die Gänge der Tempel eintauchen, die Treppen erklimmen und auf Balkonen und hinter Zinnen den Blick über das hölzerne grüne Meer schweifen lassen, ohne dessen Ufer erkennen zu können.

Die Tempel der alten Kultur sollen noch prächtiger, ihre Türme noch höher sein als die der Bruderschaft. Manche Geschichten erzählen davon, dass in früheren Zeitaltern das gesamte Land von dichten Wäldern bedeckt gewesen sei. Doch die Menschen haben, um ihre hölzernen Schiffe zu bauen, mit denen sie die Ozeane befuhren, weite Flächen gerodet. Der Zorn der Erde hat die letzten großen Wälder im Norden vergiftet, hat ihr Holz unbrauchbar gemacht für die Menschen. Und dieser Zorn lässt ihn wachsen.

Doch all dies sind nur Legenden, klare Wegweiser in den Ohren der Abenteurer, doch sonst? Was wahr ist an den blumigen Worten bleibt derweil verborgen unter den mächtigen Wurzeln des Waldes, der unaufhörlich schlingt und zerrt am Land, der die Menschen vor sich her treibt wie ein gieriges Raubtier.

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