Kapitel 4

Die Geschichte von Faar

Inhalt

Es gab eine Kultur vor hunderten, wenn nicht tausenden von Jahren, vor unzähligen Menschengeschlechtern. Man verehrte die Schlangen und huldigte dem Gold. Die Menschen bauten große Paläste, schmückten sich mit Geschmeide aus Gold und Silber. Lebten in Prunk und Überfluss. Die Felder der Bauern schenkten reiche Ernte, es war eine Zeit des umfassenden Wohlstands.
Dieser Reichtum konnte natürlich nur erhalten werden, wenn andere Menschen dafür unterdrückt wurden. Tief in den Minen der Berge schürften die Sklaven nach dem mächtigen Gold, um die Stellung des Reiches zu festigen und es zu einer erfolgreichen Handelsmacht werden zu lassen.
Auf den Meeren fuhren Schiffe, zu den Häfen anderer Königreiche, trotzten den Gefahren der See. Ihre farbenfrohen Segel, das aufgeregte Treiben in den Küstenstädten, die Freude an den fremden Waren, die in den Rümpfen der Schiffe hergebracht wurden. Ein Abglanz davon ist noch in den südlichen Ländern zu erleben, in Lygia und den zahllosen namenlosen Fürstentümern jenseits davon. Schiffe – undenkbar im heutigen Faar. Die Bruderschaft würde solche Sünden niemals dulden, schon bald würden Kapitäne und Mannschaften an den Stadtmauern baumeln oder ihre Köpfe auf Spießen ausgestellt werden. Tatsächlich gibt es einige wenige Schmuggler, die es wagen, im Schutz von Dunkelheit und Nebel auf die Flüsse hinauf zu schippern. Vielleicht ist das aber auch nur eine weitere Legende.
Das Volk, das vor hunderten von Jahren lebte, ging unter. Nur wenige Ruinen sind noch übrig. Von einigen, die im Grunde allgemein bekannt sind, kann man Lagepläne aus den Händen zwielichtiger Gestalten kaufen. Doch die Münzen dafür kann man sich sparen, die Schatzsuche in diesen bereits geplünderten Mauern und Tunneln fördert keine Goldschätze mehr zutage – allzu viele haben dort bereits gesucht.
Es soll weitere, bislang unentdeckte und nicht erforschte Ruinen geben, mit Wänden aus Gold und Silber, Edelsteinen, die sich wie Staub in den Ecken türmen, und Dächern aus Glas, so rein, dass es unsichtbar wird. Legenden berichten von weitläufigen Palästen in den Tiefen des wachsenden Waldes und von ganzen Städten, die verlassen und vom Urwald verschlungen wurden, in den weiten Ländern jenseits des Weltenbruchs. Die Hoffnung darauf, diese Altertümer zu finden und ihre geheimnisvollen Reichtümer zu bergen, hat viele Abenteurer nach Venera geführt, dem bedeutendsten der Türme am Rand des Weltenbruchs. Die Stadt, die sich am Fuß dieses Turms gebildet hat, ist angefüllt mit Hoffenden und Verzweifelten. Viele von denen, die in die Tiefen der Urwälder aufbrechen, werden nie wieder gesehen.
Was führte zum Untergang des alten Volkes? Neid, Missgunst. Das Aufbegehren der Sklaven. Irgendwann wurde ihr Leiden unerträglich, sie verrotteten in den Stollen unter den Bergen, während oben die Menschen in Milch badeten und sich mit Schmuck behängten. Schmuck, gefertigt aus dem Gold, das von den Sklaven aus der Tiefe geholt wurde, an dem noch der Dreck und das Blut aus den Minen klebte. Irgendwann hatten die Arbeiter genug von den Geschichten über das Leben an der Oberfläche, sie stürmten aus ihren unterirdischen Stollen, hinein in die Paläste. Sahen, was mit der Frucht ihrer Arbeit geschah und töteten. Wieder wurde Blut vergossen, wieder war das Gold der Auslöser. Immer wieder das Gold.
Die Menschen waren offenbar nicht in der Lage, mit dem Gold zu leben. Es brachte nur Unglück und Schmerz über sie. Die Zivilisation ging unter, und zwischen den verkohlten Ruinen der Vergangenheit und den verbrannten Leibern, die der Krieg letztlich übrig ließ, keimte eine neue Welt.
Unsere Welt. Nachdem die dunklen Jahre überstanden waren, dreihundert oder vierhundert, die Quellen schwanken da, und die Menschen wieder Städte gebaut hatten, Handel trieben und den Fluch des Goldes hinter sich ließen, kam die nächste Katastrophe und suchte das Land heim. Schwere Beben und Stürme verwüsteten die Ebenen, zerrissen Berge und Seen, ließen Flüsse ins Nichts stürzen. Wieder lag alles in Trümmern, wieder war das Wehklagen groß. Doch die Menschen blieben unverzagt, sie schüttelten auch diese Rückschläge ab und machten weiter.
Das Land hatte sich verändert. Im Osten hatte sich eine hunderte Schritt hohe Felsklippe gebildet, an ihrem Fuß wucherten die Wälder. In der Tiefe schienen nicht viele Menschen überlebt zu haben. Und lange versuchte niemand, die Felsen hinabzuklettern, um nachzusehen.
Auch die Städte im Königreich selbst waren zerstört oder zumindest stark beschädigt worden. Der Fluss, an dem Alaris lag, verschwand nun in einer klaffenden Schlucht, die durch die Stadt schnitt wie ein tiefer Schwerthieb. Man versuchte, weiterhin einen Hafen zu unterhalten und mit zahllosen Brücken, Kränen und Flaschenzügen den Warenverkehr aufrecht zu erhalten, doch spätestens, als die Bruderschaft auf den Plan trat, war es damit vorbei.
Bis dahin wurde Faar von verschiedenen Königen regiert, die aber insgesamt so schwach und ohne Einfluss geblieben waren, dass nicht einmal ihre Namen überliefert sind. Doch als die Bruderschaft kam, änderte sich wieder einmal alles.
Nach den Beben waren vermehrt albtraumhafte Kreaturen aufgetaucht, sie waren aus dem Meer gekrochen und hatten die Küstenorte heimgesucht. Zunächst nur einzelne, hatten sie sich schnell zur Plage entwickelt. Bürgerwehren hatten sich gebildet, man versuchte, sich ihrer zu erwehren. Wachtürme wurden an Klippen und Stränden errichtet, und Prediger zogen von Lager zu Lager, um die Saat dessen zu säen, was später in der Bruderschaft vom Goldenen See aufgehen würde.

Vergangene Epochen

Die Ära des Goldes

Nach außen hin berichteten die Überlieferungen von einer Zeit des Reichtums, von Palästen aus Gold, von verschwenderischen Festen und einem Überfluss an Fleisch, Gewürzen und Wein. Von Ausschweifungen, die kaum Grenzen kannten. Sklaven maßen sich im tödlichen Kampf oder dienten in bizarren Liebesspielen, wurden Opfer von Orgien, die mit Gewalt einhergingen. Andere schufteten unter Tage, in den Minen, und entrissen den Bergen das allgegenwärtige Gold. Die Menschen konnten nicht genug davon bekommen, sie gierten nach mehr und ließen zur Erfüllung ihrer Wünsche tausende sterben. Aus dem schwarzen Staub unter dem Fels gab es für die meisten kein Entkommen.
Die Spiele, die in ihrer dekadenten Pracht alles andere überstrahlten, wurden immer brutaler. Ein Leben war nichts mehr wert, darin unterschied sich bereits diese Ära kaum von dem dunklen Zeitalter, das ihr folgen sollte.
Der Aufstand der Sklaven beendete die Zeit des Goldes. Sie strömten aus den Minen, zunächst einige wenige, die sich absprachen, die den Mut aufbrachten und den richtigen Zeitpunkt gekommen sahen. Aus einem Rinnsal wurde ein reißender Fluss, aus wenigen wurden Tausende, die in die Paläste stürmten und zerschmetterten, was sie über ewige Jahre hinweg in Ketten gelegt hatte.

Die Ära der Knochen

Der große Aufstand sorgte dafür, dass Türme und Paläste dem Erdboden gleichgemacht wurden. Sklaven und Reiche starben gleichermaßen in großer Zahl. Die Ordnung brach zusammen. Die Unterdrückten, die nun ihre Fesseln abwarfen, bekamen ihre Vergeltung. Es war eine blutige Zeit, und die Toten türmten sich in den Straßen.Die Städte brannten aus, und mit ihnen verging die Menschlichkeit, ohnehin eine zarte Pflanze, und wurde unter Blut und Trümmern begraben.
Doch auch diese Zeit währte nicht ewig. Irgendwann war das ganze Land in Asche getaucht, schlimmer noch als heute der Himmel über Alaris. Die alten Reichtümer waren in alle Winde verstreut, wurden eifersüchtig gehortet und bewacht oder versanken im Schlamm namenloser Schlachtfelder.

Die Ära der Stille

Die Zahl der Menschen war geschrumpft. All die ziellosen Schlachten, die Vertreibungen und Morde hatten ihren Tribut gefordert. Es gab keine Sieger, allenfalls einige, denen es besser erging als anderen. Die sich zusammenschlossen, ihren Besitz zu verteidigen wussten und nicht nach immer mehr gierten. Aus dieser schwachen Saat entwickelte sich das, was wir heute als selbstverständliche Ordnung der Dinge ansehen. Das Königreich von Faar thronte über allem, wuchs und gedieh, bot den Menschen die Sicherheit und Ruhe, nach der sie sich so sehr sehnten. In dieser Zeit erinnerte man sich an die alten Riten, wollte den Vögeln und dem Himmel nah sein und begann wieder Türme zu bauen. Höher und höher, auf dass sie die Wolken berührten.
In dieser Zeit, als der Fluss der Dinge wieder einem ruhigeren Lauf folgte, erschien der Wanderprediger Valon. Er zog von Dorf zu Dorf und lauschte den Ängsten und Nöten der Menschen. Er half, wo er konnte, und verdiente sich bald einen respektablen Ruf als Wissender und Berater. Die einfachen Leute hörten auf ihn. So gründete er am Goldenen See die Bruderschaft, die rasch Zulauf fand und sich in den Dienst des Königs und der Menschen stellte. Valons Gesetze, die er am Ufer des Goldenen Sees aufgeschrieben hatte, griffen die Ängste der Menschen auf und verwandelten sie in ein Instrument der Herrschaft. Die Macht der Bruderschaft wuchs, und schon bald standen ihre Priester neben dem Thron des Königs, stützten sein Zepter, um es ihm letztendlich zu entreißen.

Die Spindel der Welt

Einst, in der Ära des Goldes, bauten die Menschen die Spindel der Welt, ein Turm so hoch´, dass er den Himmel berührte. Zu Ehren der Könige, zum Ruhme der Menschen.
Doch dann, am Ende der Ära des Goldes, stürzt die Spindel ein. Das große Beben, das das Land zerreißt, sprengt auch die Spindel, die ohnehin ein allzu kühnes, wenn nicht sogar wahnsinniges Gebäude war. Die Mauern zerbarsten, die Spindel zerbrach. Ihre Trümmer, so will es die Legende, bilden heute die Grate der Talassa-Berge.
Doch damit kam etwas anderes zum Vorschein. Eine riesige Öffnung tat sich dort auf, wo zuvor die Spindel sich getürmt hatte. Endlose Stockwerke führten in die Tiefe, ein riesiger, bodenloser Schacht lag in den Schatten der Erde. Der Seelenbrunnen. Die Spindel hatte verborgen, dass zur gleichen Zeit, zu der man in den Himmel gebaut hatte, man auch in die Tiefe bohrte.
Man fing die Geister Abertausender ein und begrub sie hier, die Toten zahlloser Schlachten und Seuchen.
Der Seelenbrunnen wird geschützt von sechs Kreisen aus dem Blut der Könige.
Als die Spindel brach, wurden die Seelen und ihre Kräfte entfesselt. Man bannte sie in die mächtigsten Krieger, hunderte Seelen in einen Körper. So entstanden die Seelenkrieger.
Im Seelenbrunnen leben uralte Geisterbeschwörer, sie sind sozusagen mit dem Brunnen verwachsen. Sie verlassen ihn nie, sind sagenumwobene Gestalten, von denen meist nur ehrfürchtig geflüstert wird.